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Kieler Nachrichten, 31. Januar 2014 

 

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Kieler Nachrichten, 01. Dezember 2010

 

Kieler Nachrichten, 27. Oktober 2010

 

unizeit No 62 vom 23.10.2010

Interview

»Islam ist nicht gleich Islam«

Ist der Islam eine Integrationsbremse? Nicht zwangsläufig, meint der Kieler Islam­wissenschaftler Professor Lutz Berger im unizeit-Interview.

 

Foto: iStockphoto

 

unizeit: Sie halten zum Thema Islam und Integrationsfähigkeit Vorträge für die Schleswig-Holsteinische Universitäts- Gesellschaft und wenden sich damit ausdrücklich ans breite Publikum. Sind Sie auf den Sarrazin-Zug aufgesprungen?

 

Berger: Überhaupt nicht. Der Vortrag beruht auf einem Beitrag, den ich schon im Sommersemester 2009 zur Ringvorlesung über Vielfalt und Zusammenhalt geleistet habe. Die Debatte über die Wirkung des Islam auf gesellschaftliche Integration wird bereits wesentlich länger geführt. Nur dass sie zwischenzeitlich immer wieder in der Versenkung verschwindet und neu hochkommt, wenn jemand wie Herr Sarrazin auf den Plan tritt.

 

 

 

 

Kann sich diese Religion aus islamwissenschaftlicher Sicht mit westlichen Denk- und Gesellschaftsstrukturen arrangieren?

 

Da gibt es keine simple Antwort. Islam kann sich auf Integration hinderlich auswirken, muss es aber nicht. Das hängt ganz davon ab, von welchem Islam wir reden, und damit verbunden häufig von der sozialen Schicht, der die Betreffenden angehören.
 

 

Unter welchen Bedingungen kann es schwierig werden mit der Integration?

 

Das ist dann der Fall, wenn wir es mit sehr konservativen und auf Abgrenzung zielenden Einstellungen zu tun haben. Das verstärkt dann die unter Minderheiten im Exil – auch beispielsweise bei Deutschen im Ausland – ohnedies vorhandene Tendenz zu Identitätswahrung, indem sie an traditionellen Bräuchen festhalten, die im Herkunftsland bereits hinterfragt werden.
 

 

Über solches Verhalten von deutschen Minderheiten im Ausland schmunzeln wir, während Kopftuch und erst recht Burka Befremden auslösen.

 

Kopftuch und Burka sind sowohl für ihre Befürworter wie für ihre Gegner sehr stark symbolisch aufgeladen. Das macht den Umgang damit so schwer. Sie stehen aus der Sicht ihrer Gegner – auch unter den liberalen Muslimen – für die Unterdrückung der Frau durch eine rückschrittliche Religion, während sie für ihre Befürworter nicht nur ein göttliches Gebot darstellen, sondern die Frau vor den angeblichen Gefahren einer sexuell freizügigen Gesellschaft schützen. Geschlechterrollen und Sexualität sind auch unter konservativen Christen die Fragen, bei denen sie die größten Schwierigkeiten mit der modernen Welt haben. Bei konservativen Katholiken oder Evangelikalen werden diese Haltungen aber nicht als ausgrenzend wahrgenommen, weil sie als Teil der deutschen Gesellschaft gelten und sozusagen von innen heraus argumentieren. 
 
Lutz Berger ist Professor für Islamwissenschaft und lehrt seit Oktober 2007 in Kiel. Foto: pur.pur

 

Gibt es Gruppen von Muslimen, bei denen konservatives Denken besonders ausgeprägt ist?

 

Türkische Migranten kommen oft aus ländlichen Regionen, sind wenig gebildet und gehören den unteren sozialen Schichten an. All das sind klassische Voraussetzungen für enges religiöses Denken. Anders verhält es sich mit Muslimen aus dem Iran. Die sind typischerweise gut ausgebildet und ja gerade deshalb hier, weil sie nicht mit den starren religiösen Konventionen des Regimes in ihrer Heimat zurechtkommen. Islam ist eben nicht gleich Islam.
 

 

Aber schwindet nicht die Distanz zur Mehrheitsgesellschaft in der zweiten oder dritten Generation auch bei den konservativen Gruppen?

 

Gerade Jugendliche haben ein starkes Bedürfnis nach Identität und Zugehörigkeit. Wenn sie meinen, keine Zukunftsperspektive zu haben, ist es für sie attraktiv, ihr eigenes Scheitern dadurch zu kompensieren, dass sie sich wenigstens moralisch überlegen fühlen können. Solchen Jugendlichen machen abgrenzende Formen von Islam ein ideales Angebot. Eine derartige Selbstausgrenzung erschwert dann wiederum nicht selten den gesellschaftlichen Aufstieg. Ähnlich wirken sich bei vielen männlichen Jugendlichen aus Migrantenfamilien die Bilderwelten des Hip-Hop und Gangsta-Rap aus. Die haben mit Islam überhaupt nichts zu tun, sondern sind Teil der modernen westlichen Kultur.
 

 

Trotzdem drängt sich der Eindruck auf, dass der Islam eine Religion ist, die das Wort Toleranz nicht kennt. Der im Sommer verstorbene ägyptische Rechtsgelehrte Abu Said wurde zwangsgeschieden und musste ins niederländische Exil, nur weil er die Meinung vertrat, dass der Koran zwar göttlichen Ursprungs sei, aber auch aus seiner Entstehungszeit heraus verstanden werden müsse. Spricht so etwas nicht für die These, dass der Islam die Aufklärung versäumt hat?

 

Da ist etwas dran. Wichtig ist aber erst einmal, dass die Aufklärung in Europa nicht damit erklärt werden kann, dass Europa christlich ist und das Fehlen von Aufklärung in der islamischen Welt allein am Islam liegt. Aufklärung war in Europa ein komplizierter gesellschaftlicher Prozess, der sich vielfach gegen den Widerstand der Kirchen durchgesetzt hat. Die katholische Kirche hat noch im 19. Jahrhundert Demokratie und Religionsfreiheit ausdrücklich als unchristlich verurteilt. Vom Ursprung her sind sich Islam und Christentum dabei sehr ähnlich. Es handelt sich hier wie dort um Erlösungsreligionen mit einem Ausschließlichkeitsanspruch. »Niemand kommt zum Vater denn durch mich«, heißt das in der Bibel. Aber es ist richtig, dass, weil aus den unterschiedlichsten Gründen der Prozess der Aufklärung die islamische Welt nicht in gleicher Weise erfasst hat, Muslime stärker an solchen Ideen festhalten als liberale Christen in Westeuropa. Wenn evangelikale Prediger sagen, dass Andersgläubige in der Hölle landen, ist das vielen Christen hier eher peinlich.
 

 

Wie viele der ungefähr vier Millionen Muslime in Deutschland hängen konservativ-abgrenzenden Vorstellungen des Islam an?

 

Den Zahlen, die es dazu gibt, traue ich nicht recht, weil es ganz stark davon abhängt, wie man fragt. Aber ich würde schätzen, dass wir es mit 20 bis 30 Prozent zu tun haben. Aber noch einmal: Das Problem mangelnder Integration muslimischer Migranten allein am Islam festzumachen, wäre falsch.
 

 

Das Interview führte Martin Geist

 

 

22. Oktober 2010 exklusiv auf texte-mit-geist.de

 

Bosse hört die Signale !

 

Sie spricht oder versteht zumindest sieben Sprachen, hat soeben ihre Bachelorarbeit abgeschlossen, vereint künstlerische Begabung mit weit überdurchschnittlichen Computerkenntnissen und ist mit hoher sozialer Kompetenz gesegnet. Diese Person ist nicht erfunden, sondern existiert ganz real. Eigentlich müsste sich also der Arbeitsmarkt um eine solche gerade einmal 22 Jahre junge Nachwuchskraft reißen.

Freilich haben das nicht alle Chefs begriffen. Über Beziehungen hatte sich die Geisteswissenschaftlerin aus Kiel für den Sommer tatsächlich einen der begehrten Praktikumsplätze in einem Verlag ergattert. Zwei bis drei Monate sollten es schon sein, hieß es seitens der Geschäftsführung. Sonst lohne sich das Ganze nicht. Aber eine Vergütung könne man leider, leider nicht bieten.

Unsere Protagonistin ging nach der ersten Freude über den ergatterten Praktikumsplatz in sich und kam zu einem Entschluss, den zu finden nicht viele den Mut haben: Sie lehnte dankend ab. „Warum soll eine, die so viel kann wie ich für umsonst arbeiten?“, fragte sie sich.

Verblüffende Geschichten über Missverständnisse können auch angehende Ingenieure der Fachhochschule Kiel erzählen. Ein Praktikum bekommen sie jederzeit, aber selbst in dieser Branche hängen mehr Arbeitgeber als man glauben möchte dem kühnen Glauben an, dass sie ihre heute schon überaus gefragten Mitarbeiter von morgen ohne einen Cent Vergütung wenigstens für die Fahrtkosten abspeisen können.

Diese Praktikanten werden sich, wenn es so weit ist, unter Garantie Arbeitsplätze bei Chefs suchen, die verstanden haben. Und – Bosse hört die Signale – auch die oben erwähnte Praktikumsverweigerin bekam inzwischen einen Job angeboten. Einen wirklich guten. So richtig gegen Geld. Sie hatte sich noch nichtmal darum beworben und denkt noch darüber nach, ob sie ihn annehmen soll.

Martin Geist

 

 

 

 

Dokumentation der Veranstaltung:

Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten beim Zugang zum Arbeitsmarkt

06. Juli 2010 in Kiel

über folgenden Link: http://access-frsh.de/fileadmin/access/pdf/2010/Doku-06.07.2010.pdf

 

Kieler Nachrichten, 29. September 2010

 

 

Kieler Nachrichten, 25. September 2010

 

 

Kieler Nachrichten, 16. September 2010

Wissenschaftler warnt: Politik ignoriert Folgen des Klimawandels für Küstenschutz

 

Von Martin Geist

 

 

Kiel – Den modernen Bodenkundlern ergeht  es ein bisschen wie Theodor Fontanes Deichgraf Hauke Haien. Man bestaunt zwar ihre Kenntnisse, hält im Zweifel aber doch lieber am Althergebrachten fest. Dass jedenfalls der absehbare Klimawandel neue Anforderungen an die Beschaffenheit der norddeutschen Deiche stellt, steht für die Experten außer Frage. Von der Politik wird es aber bisher kaum wahrgenommen.

Um zwei Grad wärmer wird die durchschnittliche Temperatur nach Berechnungen der Klimaforscher im Jahr 2010 sein, wohl um 50 Zentimeter höher in der Folge der Meeresspiegel. „Für die Deiche hat das Konsequenzen, an die wir schon heute denken müssen“, mahnt Prof. Rainer Horn, Direktor des Instituts für Pflanzenernährung und Bodenkunde an der Universität Kiel.

„Land unter“ könnte es eines gar nicht mehr so fernen Tages fürs klassische Deichvorland heißen, das nicht nur für die Broschüren der Urlauberorte an der deutschen Nordseeküste bedeutsam ist. Vielmehr nehmen die Wiesen vor den Wällen im Fall einer Sturmflut der See einen ersten Teil ihrer zerstörerischen Kraft.  Mit steigendem Meeresspiegel wird das Wasser aber unweigerlich direkt an die Deiche heranreichen, sie von unten her aufweichen und durch nach oben steigende Feuchtigkeit zusätzlich schwächen.

Das, so fürchtet Horn, könnte sich insofern dramatisch auswirken, als zugleich die Gewalt der Wellen deutlich zunehmen wird. „Schwächere Deiche haben stärkere Belastungen zu ertragen“, resümiert der Professor, der auch Präsident der Deutschen Bodenkundlichen Gesellschaft ist.

Und als ob das des künftigen Ungemachs an den Küsten nicht genug wäre, kommt noch ein weiteres Problem hinzu. Höhere Temperaturen und der damit zunehmende Wasserbedarf der Pflanzen trocknen die Kleischicht der Deichoberflächen aus, lassen Risse entstehen und führen zu noch mehr Instabilität.

„Gegen all das kann man etwas tun“, betont Horn jedoch. So manche Konsequenz aus den Erkenntnissen der Bodenkundler geriete nach seiner Einschätzung sogar vergleichsweise preisgünstig und auf jeden Fall erheblich günstiger als spätere Nachbesserungen. Flachere Anstiegswinkel der Deiche beispielsweise wären aus Sicht des Wissenschaftlers mit vertretbarem Kostenaufwand machbar, und erst recht gilt das für Horns Forderung, das Deichvorland wieder mit Schafen zu beweiden. Die Rehabilitierung dieser einst mit Rücksicht auf die Vielfalt der Vegetation verbannten Vierbeiner würde den Boden vor den Deichen spürbar verfestigen und somit den Küstenschutz insgesamt verbessern.

Und schließlich gibt es auch für die das Problem mit den Rissen auf den Oberflächen eine Lösung, indem von vornherein stärker getrocknete Kleiböden verbaut werden. Dann, so Horn, stellt sich derselbe Effekt ein wie beim gebrannten Ziegelstein, der wesentlich belastbarer ist als die ursprünglich wabbelige Tonmasse.

„Die Folgen des Klimawandels für die Küsten sind ernst und dürfen nicht unterbewertet werden“, lässt auch das schleswig-holsteinische Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume grundsätzliche Sensibilität für diese Problematik durchblicken. Doch damit ist es nach Prof. Horns Erfahrung nicht mehr weit her, sobald es handfest in die Praxis geht. Teils aus mangelnder Einsicht in die Gesamtproblematik, vor allem aber aus Scheu vor Mehrkosten würden im Küstenschutz die Folgen des Klimawandels nach wie vor ignoriert, kritisiert der Bodenkundler.

Kieler Nachrichten, 11. Juni 2010

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ASB magazin, Ausgabe Juni 2010

 

Kieler Nachrichten, 07. Juni 2010


 

unizeit No 60 vom 29.5.2010

Die dunkle Seite der Triebe

 

Wissenschaftlich im Dunkeln tappen: Das ist nötig, um zu ermessen, wie viele Kinder sexuell missbraucht werden, ohne dass es je eine offizielle Stelle erfährt.

 
Foto: Digital Stock

Jedes dritte Kind wird mindestens einmal im Leben Opfer eines sexuellen Übergriffs. Oder sind es »nur« zwanzig Prozent – oder zwei bis drei Prozent? Die Zahlen zu diesem Thema scheinen einem statistischen Bauchladen zu entstammen, aus dem sich jeder ganz nach seinen jeweils favorisierten Argu­menten bedienen kann.

Wie manche Angabe zustande und in Umlauf kommt, darüber wundert sich auch Professor Hartmut Bosinski, Leiter der Sektion Sexualmedizin auf dem Kieler Campus des Uni-Klini­kums. Dennoch betont er: »Es ist absolut möglich, auf seriöse Weise realistische Größenordnungen zu ermitteln.«

Erste Bezugsgrundlage ist dabei die amtliche Statistik. Und die besagt, dass jährlich etwa 16.000 Anzeigen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs erstattet werden. Weil aber bekannt ist, dass viele Taten – besonders jene im Familienkreis – nicht angezeigt werden, setzen Wissenschaftler wie Bosinski auf die Methode nachträglicher Befragungen. Zufällig ausgewählte 18 bis 65 Jahre alte Erwachsene sollen angeben, ob und wie oft sie im Alter von bis zu 14 Jahren Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sind. Dabei kommen bundesweit repräsentative Erhebungen zu dem Schluss, dass acht Prozent der Frauen und drei Prozent der Männer sagen, als Kinder schon einmal sexuell missbraucht worden zu sein – und zwar in Form von Übergriffen mit unmittelbarem Körperkontakt. Das kann bloße, aber eindeutige Berührung ebenso bedeuten wie brutale Vergewaltigung.

Umgerechnet auf die tatsächlich angezeigten Fälle bedeutet das, dass die Dunkelziffer ungefähr fünfmal so hoch ist und von jährlich etwa 70.000 missbrauchten Kindern ausgegangen werden muss. »Rechnerisch wird also jede achte Minute irgendwo in Deutschland ein Kind missbraucht«, sagt Bosinski, der andererseits keine Anhaltspunkte für eine Zunahme derartiger Übergriffe festmachen kann. Aufschlussreiches offenbaren die Dunkelfeldstudien auch zur Täterstruktur. Zu 50 Prozent entstammen die Täter demnach der Familie, zu 20 Prozent aus dem Bekanntenkreis, und zu 30 Prozent sind sie absolut fremd. Bei 35 bis knapp 50 Prozent dominieren pädophile Neigungen. Die übrigen sind dagegen Gelegenheitstäter, die entweder ihre Macht ausnutzen oder aber Kinder als Ersatzobjekte für nicht vorhandene erwachsene Geschlechtspartner missbrauchen. Dieser zweite Typus dürfte laut Bosinski in Familien vergleichsweise häufig vorkommen. Dagegen müssen Fremdtäter, die sich gezielt Kinder als Opfer suchen, häufiger als Pädophile eingeordnet werden. Pädophile Frauen gibt es derweil offenbar nur ganz selten. Wenn Frauen – was ebenfalls nur in fünf Prozent der offiziell erfassten Delikte der Fall ist – als Täterinnen in Erscheinung treten, dann fast immer in unterstützender Funktion für einen männlichen Partner.

Warum aber bleibt Kindesmissbrauch überhaupt so oft unentdeckt? Schweigen und bewusstes Wegsehen in den Familien scheint das eine große Problem zu sein, Unwissenheit und Unsicherheit in vielen gesellschaftlichen Gruppierungen das andere. »Haus- oder Kinderärzte, die eine Familie seit Jahren betreuen, tun sich manchmal schwer damit, etwas zu unternehmen, wenn sie den Eindruck haben, da könnte was nicht in Ordnung sein«, sagt der Rechtsmediziner Professor Hans-Jürgen Kaatsch. Solche Hemmungen sind aus seiner Sicht umso nachvollziehbarer, als für die Betroffenen schwere Konsequenzen vom Entzug des Kindes bis zur gerichtlichen Verurteilung drohen. »Da ist es schon verständlich, wenn man sich fragt, was eigentlich passiert, wenn man sich irrt«, sagt Kaatsch.

Um ihren Kollegen aus derartigen emotionalen wie fachlichen Zwickmühlen herauszuhelfen, bieten die Kieler Rechtsmediziner seit mehr als zehn Jahren so genannte Konsiliarberatungen an. Der jeweilige Arzt hält dabei das Heft des Handelns in der Hand, die forensischen Experten unterstützen ihn jedoch mit ihrer Erfahrung und ihrem Fachwissen. Passt die geschilderte Verletzungsursache zum Befund? Gibt es ältere Verletzungen vergleichbarer Art? Liefern ergänzende Untersuchungen durch Kinderärzte oder Gynäkologen Anhaltspunkte? Und wie sieht es mit Abstrichen aus, die beispielsweise Hautpartikel fremder Personen im Intimbereich des möglichen Opfers hervorbringen können? Das sind nur wenige aus einer Vielzahl von Fragen, denen bei solchen Kooperationen zwischen niedergelassenen Ärzten oder anderen Kliniken und der Rechtsmedizin auf den Grund gegangen wird.

In ähnlicher Weise leistet die Rechtsmedizin Unterstützung für unmittelbar Betroffene. Hegt etwa eine Mutter den Verdacht, ihr Partner könnte sich an ihrem Kind vergriffen haben, so bieten die Experten eine umfassende Palette an Diagnose und Beratung auf. Organisationen wie der Kinderschutzbund oder das Präventionsbüro PETZE werden zudem stets hinzugezogen. Denn, so sagt Professor Kaatsch: »Nichts ist schlimmer als zu sagen: "Ja, da ist etwas passiert", und die Leute dann allein zu lassen.«

Martin Geist

 

unizeit No 60 vom 29.5.2010

Kein Täter werden

Wer pädophil ist, hat sich das ebenso wenig ausgesucht wie jemand, der hetero- oder homosexuell ist. Doch das bedeutet keinen Freibrief.


»Die Betroffenen sind aber sehr wohl verantwortlich dafür, was aus dieser Neigung wird«, betont Professor Hartmut Bosinski. Seit gut einem Jahr wird deshalb in Kiel Unterstützung für Männer angeboten, die etwas gegen ihre fatale sexuelle Orientierung unternehmen wollen.

Zielgruppe sind einzig und allein diejenigen, die noch nie einschlägig straffällig geworden sind, gegen die keine Ermittlungen laufen, die aber wissen oder befürchten, dass sie einen Hang zu Sex mit viel zu jungen Menschen haben. Kostenlos, anonym und unter Zusicherung umfassender Schweigepflicht können sich die Männer in der Sektion für Sexualmedizin diagnostizieren, beraten und bei Notwendigkeit in eine Therapie vermitteln lassen. Seit März 2009 haben sich in Kiel 85 Männer gemeldet, davon erschienen 25 zur Diagnostik, von denen sich wiederum zehn in Therapie begeben haben. In vier Fällen hatten die betreffenden Männer zu unrecht eine pädophile Neigung befürchtet, die übrigen elf Männer lehnten eine empfohlene Therapie ab. Dies geschieht laut dem Projektverantwortlichen Professor Hartmut Bosinski zumeist deswegen, weil befürchtet wird, dass die Ehefrau oder das soziale Umfeld von dem Problem erfahren könnte.

Ins Leben gerufen wurde die Aktion »Kein Täter werden« vom Direktor des Instituts für Sexual­wissenschaft und Sexualmedizin an der Berliner Charité, Professor Klaus Beier. Der an der Kieler Sexualmedizin habilitierte Arzt und seine Kollegen erreichten bisher mehr als 1000 Männer und vermittelten 250 von ihnen in eine Therapie.

Je nach Ausprägung der Störung setzt die Therapie auf Gespräche und Reflexion, oftmals aber auch auf den zusätzlichen Einsatz triebhemmender Medikamente.

Martin Geist

Information und Kontakt:
Tel. 0431 5974600
Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt! JavaScript muss aktiviert werden, damit sie angezeigt werden kann.
www.keintaeterwerden.de/kontakt
 
 
 
 
 
Kieler Nachrichten, 27. Mai 2010
 
 

Kieler Nachrichten, 11. Mai 2010

 

unizeit No 59 vom 10.4.2010 

Von der Schlange lernen

Am Anfang ist die Schlange. Am Ende könnten ganz neue Materialien für die Industrie herauskommen.
 

      Foto: pur.pur

Der Mensch – auch wenn er als Wissenschaftler daherkommt – ist ein ziemlich berechenbares Wesen. In aller Regel mag er es beispielsweise gern bunt. Die pittoreske Rückenhaut von Schlangen gilt wohl nicht zuletzt aus diesem Grund als prima erforscht, während über die Haut am Bauch kaum etwas bekannt ist. Zoologen um Professor Stanislav Gorb wollen jetzt diese Wissenslücken füllen.

Schlangen bewegen sich auf dem Bauch fort. Und das stellt ganz spezielle Anforderungen an ihre Haut. Sie muss Reibung aufbauen, um überhaupt das Vorankommen zu ermöglichen. Sie darf andererseits nicht zu viel Reibung erzeugen, weil sonst die Abnutzung zu groß wäre. »Zwar kann sich die Schlange häuten und insofern die Abnutzung ausgleichen, aber das bedeutet die Neubildung von Proteinen und somit immer einen hohen Energieaufwand«, beschreibt Gorb den biologischen Zusammenhang.

Interessant wird diese Sache, wenn man weiß, dass die Haut von Reptilien weniger verschleißanfällig ist als so manches Metall und zugleich trotzdem über ausgeprägte Reibungseigenschaften verfügt. Zudem sorgen die Strukturen der Schlangenhaut dafür, dass die Reibung je nach Bewegungsrichtung unterschiedlich stark ist. Das gilt laut Gorb sowohl für die Längs- als auch für die Querrichtung.

»Für die Technologie ist das natürlich spannend«, schlägt der Professor den Bogen von der Natur zur potenziellen industriellen Anwendung. Um aber Oberflächen zu schaffen, die eine gewisse Reibung erzeugen und zugleich wenig abnutzen, gilt es erst einmal zu verstehen, »wie die Biologie das macht«, sagt Gorb und beschreibt damit das Prinzip der Bionik, die die Natur als Baumeister erforscht.

Genau das passiert seit Juni 2009 in einem auf drei Jahre angelegten und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt, an dem auch die Universität Bonn mit ihrem ausgewiesenen Schlangenexperten Dr. Guido Westhoff beteiligt ist. Westhoff ist kürzlich Chef des Terrariums im Hamburger Tierpark Hagenbeck geworden und seither noch deutlich dichter am Kieler Geschehen, das sich konkret um vier Schlangenarten rankt. Regenbogen- und Sandboa, Kettennatter und Grüne Baumpython heißen die ausnahmslos ungiftigen, dafür aber würgenden Arten, denen die Mitglieder von Gorbs Arbeitsgruppe im sehr wörtlichen Sinn auf die Pelle rücken.

Namentlich geschieht das durch die Doktorandinnen Martina Benz und Marie-Christin Klein, die mit Apparaturen, deren Preis teils locker dem einer Oberklassenlimousine entspricht, ebenso feine wie langwierige Messungen an der Schlangenhaut vornehmen. Unter anderem ermitteln die beiden Nachwuchswissenschaftlerinnen die Reibungsstärke der einzelnen Arten, testen die Kratzempfind­lichkeit und fertigen Hautabdrücke an, um später deren filigrane Strukturen eingehend studieren zu können. Und auch wenn sie dabei ihren Forschungsobjekten mit gehörigem Respekt begegnen, überwiegt die Faszination an der Arbeit bei weitem: »Schließlich machen wir hier etwas, das sonst praktisch noch niemand getan hat«, sagt Martina Benz.

Unterstützt wird dieses Pionierprojekt auch von der in Fürth ansässigen Firma Leonhard Kurz, die weltweit 3500 Mitarbeiter beschäftigt und unter anderem Folien für optische Anwendungen produziert. Als Projektpartner verfolgt Kurz das Ziel, von der Natur zu lernen und die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt für die Herstellung industrialisierter Produkte zu nutzen. Dazu imitiert man in Kiel die Eigenschaften der natürlichen Oberflächen.  

Martin Geist

Kieler Nachrichten, 01. April 2010

 

Kieler Nachrichten, 29. März 2010

 

Kieler Nachrichten, 26. März 2010

Prima gelaunt sind die Veranstalter des Gaardener Straßenmusikfestivals angesichts der vielversprechenden Resonanz auf das Spektakel am 13. Juni.            

  Foto: Martin Geist

 

Gaarden sucht noch Straßenmusiker

Gaarden – „Das wird für Kiel eine ganz tolle Geschichte.“ Derart optimistisch äußert sich Christof Adloff vom Büro Soziale Stadt über das Gaardener Straßenmusikfestival, das am 13. Juni im dritten Jahr in Folge den Vinetaplatz und die Elisabethstraße zur Bühne für die Kleinkünstler macht.

Mehr als 20 Einzelkünstler und Gruppen aus dem Raum Kiel, ebenso wie aus Berlin, Österreich und der Ukraine haben sich für das Spektakel schon angemeldet. Weil zur Anmeldung immer noch Gelegenheit besteht und erfahrungsgemäß etliche Straßenmusiker spontan kommen, spricht damit alles dafür, dass die Zahl von 34 Akteuren aus dem Vorjahr getoppt und ein neuer Teilnehmerrekord aufgestellt wird.

 

Neu ist diesmal auch manches in organisatorischer Hinsicht. Um nicht den Reinigungstrupps für den Wochenmarkt in die Quere zu kommen, klingt, singt und scheppert es erstmals an einem Sonntag (11 bis 17 Uhr), zudem erlebt ein Spezialmarkt für Händler und Private, die Artikel rund um die Musik verkaufen, seine Premiere. Und nicht zuletzt wollen die Organisatoren am 13. Juni speziell die Kinder ansprechen. Zugesagt haben der Kinderliedermacher Olaf Schechten und der Offene Kanal samt seiner kleinen Klangerlebniswelt für junge Leute, mit einigen weiteren Beiträgen wird außerdem noch gerechnet. Gezielt haben die Gaardener schließlich Kleinkünstler eingeladen, die mit Jonglage, Zauberei oder einer Feuershow Leben in die Straße bringen.

 

Auf die Beine gestellt wird das Festival wie gehabt von einer bunt gemischten Gruppe von Musikfreunden. Neben dem Büro Soziale Stadt ist allen voran der Förderverein Gaarden als Hauptsponsor dabei, aber auch kleinere Gönner wie das Musikhaus Keller und Einrichtungen wie die Deutsche Angestellten-Akadamie (DAA), der Kinder- und Jugendhilfeverbund (KJHV) Kiel, das Wohnungsunternehmen KIV sowie als Privatpersonen Festival-Erfinder Klaus Niendorf und Folker Andreas Köpke sind mit von der Partie.

 

Anmeldungen fürs dritte Gaardener Straßenmusikfestival sind erwünscht, aber nicht unbedingt erforderlich. Dringend tun sollten das wegen der begrenzten Zahl von Steckplätzen jedoch alle Gruppen, die auf Strom angewiesen sind. Mehr Informationen und Gelegenheit zur Anmeldung gibt es im Büro Soziale Stadt (Telefon 2404280) oder online unter www.kieler-ostufer.de

Von Martin Geist

 

 

Kieler Nachrichten, 19. März 2010

 

Kieler Nachrichten, 18. März 2010

 

Kieler Nachrichten, 17. März 2010

 

Kieler Nachrichten, 13. März 2010

 

 

 

Kieler Nachrichten, 11. März 2010

 

 

 

Kieler Nachrichten, 6. März 2010

Prognose-Profi warnt: Kein schneller Aufschwung in Sicht

Prof. Joachim Scheide erwartet nur langsame Erholung der Wirtschaft

Kiel – Schätzen kann fehlen. Nicht zu schätzen, wäre aber mit Sicherheit ein noch größerer Fehler. So lässt sich das Fazit eines Vortrags von Prof. Joachim Scheide zur Verlässlichkeit von Konjunkturprognosen zusammenfassen. Vor vollen Rängen in der Hermann Ehlers Akademie dämpfte der Wirtschaftswissenschaftler am Donnerstagabend zugleich übertriebene Erwartungen in den ökonomischen Erholungsprozess.

Von Martin Geist

 

 

Joachim Scheide ist Präsident der Vereinigung europäischer Konjunkturforschungsinstitute und Chef der Prognoseabteilung im Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW). Das sind Posten, die nach seinem Eingeständnis durchaus eine gewisse Leidensfähigkeit erfordern. Immer dann, wenn die Auguren des Wirtschaftsgeschehens mit ihren Voraussagen besonders gründlich danebenliegen, setzt es schließlich Kritik oder gar Häme von allen Seiten.

Doch streng wissenschaftlich betrachtet haben solche Prognosen, die nicht auf Kaffeesatzleserei beruhen, sondern auf einer Fülle an Daten zu Auftragseingängen, Kapazitätsauslastungen und Stimmungslagen, einen großen Vorzug: Ihre Treffsicherheit lässt sich seriös berechnen. 1,2  Prozent wächst das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland nach der aktuellen Voraussage des IfW im Jahr 2010. Mit immerhin 95-prozentiger Gewissheit kann also nach den Regeln der Statistik davon ausgegangen werden, dass am Ende ein realer Wert zwischen -0,6 und 3 Prozent herauskommen wird.

Politisch ist das freilich unbefriedigend, denn aus einer Bandbreite zwischen leichter Schrumpfung und sattem Wachstum lassen sich weder für die Geldpolitik noch für die Wirtschaftsförderung oder die Arbeitsmarktpolitik sinnvolle Handlungsmöglichkeiten ableiten. Also kommen die Wirtschaftswissenschaftler laut Scheide eben nicht darum herum, sich konkret festzulegen. Wenn sie dabei die Quellen möglicher Unsicherheiten auflegen und verdeutlichen, auf welcher Basis sie zu ihren Werten gekommen sind, ist das nach Überzeugung des Experten auch eine absolut seriöse Sache.

In jedem Fall sei eine solche Vorgehensweise alternativlos, betonte der Volkswirt, dessen Prognosen im Übrigen zumeist relativ dicht an der Realität liegen. Aktuelle Debatten wie die zu weiteren Steuersenkungen können aus seiner Sicht kaum fruchtbar geführt werden, wenn keine Aussagen zur wirtschaftlichen Entwicklung und damit zu den künftigen Steuereinnahmen vorliegen.

In dieser Hinsicht hatte Scheide den Steuersenkungsfreunden am Donnerstagabend wenig Erheiterndes zu verkünden. Bis zum Jahr 2013 wird es nach seiner Erwartung dauern, ehe der Staat überhaupt wieder die Steuereinnahmen von 2008 erreicht hat. Dem rapiden Fall der Wirtschaftsleistung nach der Finanzkrise werde nach allen Indikatoren kein ebenso rasanter Aufschwung folgen, sondern nur ein gedämpfter Erholungsprozess.

Für die Geld- und Wirtschaftspolitik bedeute das „dramatische Konsequenzen“, sagte Scheide. Äußerst eng wird es demnach bei der Entwicklung der Löhne und Renten, erst recht angespannt sind die Staatsfinanzen. Neue Steuersenkungen könnten allenfalls auf Pump finanziert werden und würden damit das ohnehin bedenkliche strukturelle Defizit des Bundeshaushalts noch weiter in die Höhe treiben, warnte der Wirtschaftswissenschaftler. All das, so gab Scheide zu, sei „hart, aber unausweichlich“.                                                                                                                  

 

Kieler Nachrichten, 16. Dezember 2009


Kieler Nachrichten, 02. Oktober 2006

„Es muss viel mehr passieren“

 

Streifzug durch ein soziales Notstandsgebiet auf dem Kieler Ostufer

 

Kiel – Die meisten Arbeitslosen, die meisten Empfänger von Sozialleistungen, die dicksten Kinder. Das sind nur drei von vielen negativen Spitzenpositionen, die Gaarden in einer von der Stadtverwaltung ausgearbeiteten Statistik zur Sozialstruktur der einzelnen Stadtteile einnimmt. Wer in Gaarden unterwegs ist, findet  fast auf Schritt und Tritt Zeichen dieser sozialen Brisanz.

 
 

Abdullah Dogan senkt den Kopf und packt ein. Zehn Jahre hat er an der Ecke Elisabethstraße/Augustenstraße sein Sportfachgeschäft betrieben. Und nach den üblichen Anlaufschwierigkeiten entwickelten sich die Umsätze durchaus passabel, erzählt Dogan: „Reich wurde ich nicht, aber ich konnte davon leben.“ Seit zwei Jahren ist das anders. Das „Sporthaus Gaarden“ schreibt rote Zahlen, und der 51-Jährige Inhaber sieht schwarz.

 

Spätestens Ende Oktober wird er für immer schließen. Vielleicht auch früher, denn jeder Tag kostet ihn mehr Geld, als er einbringt. „Sehen Sie selber“, sagt er. „60, 70 Prozent Rabatt, und seit einer Stunde war keiner mehr im Laden.“

 

So wirkt sich Statistik in der Praxis aus. Wer in Gaarden zuhause ist, verfügt rechnerisch nur über 75,42 Prozent des Nettoeinkommens eines Durchschnittsdeutschen. Sogar andere Ostufer-Stadtteile wie Wellingdorf oder Dietrichsdorf bringen es immerhin noch auf etwas mehr als 80 Prozent der durchschnittlichen Kaufkraft. Was anderswo als Schnäppchen gilt, ist demzufolge in Gaarden immer noch zu teuer. Und Händler wie Abdullah Dogan bekommen es zu spüren. Was er in Zukunft macht? „Erstmal arbeitslos. Wer nimmt mich schon noch in meinem Alter?“

 

Willkommen im Club, könnte man ausrufen, wenn es nicht zu zynisch klänge. 30 Prozent aller arbeitsfähigen Gaardener beziehen Arbeitslosengeld II. Einer von drei arbeitslosen Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren wohnt nach den Ermittlungen der Statistiker ebenfalls in Gaarden. Und zwei Drittel aller Kinder und Jugendlichen unter15 hängen am Tropf staatlicher Transferleistungen.

 

Sozialer Sprengstoff, wie Stadtrat Adolf-Martin Möller fürchtet? Oder eine Bombe, deren Zündmechanismus längst unumkehrbar in Gang gesetzt wurde?

 

Reinhild Gotsch, Leiterin des Kinderhauses Räucherei, pflegt nicht gerade eine Vorliebe für Weltuntergangsszenarien. Selbst dass sie dieser Tage nachgerechnet und herausgefunden hat, dass 67,4 Prozent der 88 in ihrer Einrichtung betreuten Kinder einen Migrationshintergrund haben, wäre aus ihrer Sicht noch kein gravierendes Problem. Wenn, ja wenn nicht alle Geldgeber so tun würden, als unterschiede sich eine derartige Multi-Kulti-Einrichtung in keiner Weise von einem Kindergarten in Schilksee oder Düsternbrook. Hier wie dort bilden 22 Kinder eine Gruppe. Betreut werden sie hier wie dort nach einem identischen Personalschlüssel. Und die Sachmittel sind hier wie dort gleich knapp bemessen.

 

„Wir bräuchten dringend kleinere Gruppen“, betont Reinhild Gotsch, nach deren Überzeugung möglichst intensives Miteinanderreden das beste Mittel ist, sprachliche Defizite gar nicht erst aufkommen zu lassen. „Wie soll man das aber machen, wenn man schon alle Mühe hat, eine Gruppe mit so vielen quirligen Kindern in den Griff zu bekommen?“, fragt die Erzieherin, die sich zudem wünschen würde, dass viele Kinder schon deutlich vor ihrem dritten Lebensjahr in den Kindergarten kämen. „Dann könnte man richtig etwas bewirken“, sagt Reinhild Gotsch, die ihre Ideen selbstverständlich auch schon den Verantwortlichen der Stadt vorgetragen hat. „Da hieß es, es sei kein Geld da“, zuckt sie mit den Schultern.

 

Kein Geld. Keine Zeit. Kein Bewusstsein. Nach Einschätzung von Pastorin Christine Ehlen kann es viele Gründe haben, wenn Kinder gar nicht oder allenfalls ausnahmsweise in den Genuss einer warmen Mahlzeit kommen. Die evangelische Kirchengemeinde hat jedenfalls reagiert und bietet seit wenigen Wochen im Gemeindezentrum St. Markus in der Oldenburger Straße täglich einen Mittagstisch für Kinder an. Ein Euro kostet das Essen, was zur Kostendeckung fehlt, schießt die Gemeinde aus Spenden und eigenen Mitteln zu. Abgewiesen werden soll jedenfalls niemand. Auch wer überhaupt nichts zahlen kann, sei willkommen, betont die Pastorin, nach deren Eindruck sich die soziale Lage in Gaarden seit Ende der 90er Jahre verschärft hat: „Der Mangel an finanziellen Mitteln wird größer, die Fähigkeiten, die damit verbundenen Probleme zu lösen, entwickeln sich aber nicht weiter“, sagt die Geistliche.

 

Dabei wäre zumindest auf der politischen Ebene manches so einfach, meint Michael Breyer, Leiter der Hans-Christian-Andersen-Schule, in der Kinder aus fast 30 verschiedenen Ländern das ABC lernen. Seine Forderung: „Pumpt das Geld in die Kindergärten, denn dort kann mit wenig Aufwand am meisten erreicht werden. Wenn wir an den Schulen dann noch Mittel zur Nachsorge für die schwierigen Fälle bekommen, also etwa ausreichend viele Sozialpädagogen-Stellen, haben wir schon ganz viel erreicht.“ Die Losung „Alles Geld nach Gaarden“ als neue Leitlinie der Sozialpolitik wäre aus Breyers Sicht jedenfalls die falsche Konsequenz aus dem Statistik-Schock. „Ganz konkret prüfen“ müsse man vielmehr, ob die vorhandenen Mittel sinnvoll eingesetzt werden, meint der Schulleiter und äußert Zweifel daran, ob jährlich 4,5 Millionen Euro an Mitteln für so genannte „Hilfe zur Erziehung“ tatsächlich so viel bewirken, um derart horrende Ausgaben zu rechtfertigen.

 

„Vieles, was in dem Papier der Stadt steht, ist Wasser auf meine Mühlen“, verkündet unterdessen Bruno Levtzow, der als Vorsitzender des Ortsbeirats Gaarden seit Jahren fordert, in der Sozialpolitik auf ein gesundes Verhältnis zwischen Finanzaufwand und jeweiliger Problemlage zu achten. Zwei Halbtags-Sozialpädagogen, die das Alkohol- und Drogenmilieu auf dem Vinetaplatz in den Griff bekommen sollen, sind für Levtzow ebenso Ausdruck von Sozialpolitik mit der Gießkanne wie die vergleichsweise schlechte Ausstattung der Schulen und Kindergärten. „Wir müssen hier viel mehr machen“, sagt SPD-Mann Levtzow, der einräumt, mit diesem Wunsch zu sozialdemokratisch dominierten Zeiten im Rathaus bei den eigenen Genossen ebenso angeeckt zu haben wie jetzt.

 

Selbst in der Opposition schreiten die SPD-Leute in dieser Frage nicht uneingeschränkt Seit’ an Seit’. Der Gaardener SPD-Ratsherr Wolfgang Schulz spricht allenfalls vom „Mut, Strukturen zu optimieren“, verwahrt sich aber ansonsten gegen Versuche, den einen Stadtteil gegen den anderen auszuspielen. „Man kann einfach nicht sagen, dass ein Jugendtreff in Russee weniger wertvoll ist als einer in Gaarden“, sagt Schulz.

 

Allerdings verfestigt sich zumindest in Teilen der Kommunalpolitik der Eindruck, dass es allein mit der Optimierung von Strukturen nicht getan sein wird. „Es muss etwas passieren, und zwar da, wo es nötig ist“, fordert der parteilose Ratsherr Jan Huuk und spricht sich dafür aus, Gaarden zum Schwerpunkt der städtischen Sozialpolitik zu machen. „Dazu stehe ich, auch wenn ich im eigenen Wahlkreis dafür Prügel bekomme“, versichert der Ratsherr aus der Wik. Ob sich die politischen Kollegen mit ähnlich breiter Stirn für eine Neuausrichtung der Prioritäten einsetzen werden, dazu mag Huuk zwar keine Prognose abgeben, wohl aber hat er einen strategischen Rat parat: „So etwas kann man nur überparteilich machen. Sonst wird nichts draus.“

Von Martin Geist